Groß, hoch, mächtig. So türmt sich das Große Wiesbachhorn vor uns auf. Doch die Uhr tickt. Ob wir den Gipfel schaffen, ist ungewiss.
Spontan ist gut. Sofern alles aufgeht. Wenn sich am Vorabend der Tour allerdings herausstellt, dass der erste Bus vom Kesselfall zu den Stauseen doch erst um 8.10 Uhr statt um 7 Uhr fährt, fängt das Spontan-Konzept plötzlich an zu bröckeln. 70 Minuten weniger Zeit, um den Gipfel zu erreichen – denn um 16.45 Uhr fährt der letzte Bus nach Kaprun zurück. Ganz schön knapp bemessen für eine Tour, die mit acht Stunden Gehzeit angegeben ist. Das wirft unseren Zeitplan gehörig über den Haufen. Da heißt es, starke Nerven zu behalten.

Zum Wiesbachhorn bin ich völlig unverhofft gekommen. Bei einer geführten Alpenvereins-Tour zum Stubacher Sonnblick am Wochenende davor lerne ich Andrea kennen. Sie erzählt mir von ihren Plänen, in den kommenden Tagen aufs Wiesbachhorn zu gehen. Schöne Namen von schönen Gipfeln lösen in meinem Kopf eine Gedankenfixierung aus. Ich. Will. Da. Rauf.

Weil’s perfekt passt, beschließen wir, gemeinsame Sache zu machen. Zu zweit verspricht so eine Tour schließlich gleich viel mehr Spaß zu machen als alleine. Andrea ist so nett und teilt ihr Doppelzimmer in Kaprun mit mir, das sie für den Glockner-Ultra-Trail, der wenige Tage später stattfindet, schon gebucht hatte. Bergkollegin gecheckt, Tour gecheckt, Zimmer gecheckt. Check.
Die Tour sollte von den Anforderungen her für uns beide locker zu schaffen sein. Doch wie wir mit der knappen Zeit umgehen sollen, das ist uns etwas schleierhaft. Wenn alles gut geht, könnten wir es schaffen. Wenn nicht, müssen wir umdrehen, ohne den Gipfel erreicht zu haben. Zur Sicherheit vereinbaren wir eine Umkehrzeit.

Und dann: Die ersten 800 Höhenmeter schaffen wir in eineinhalb Stunden. Trotz der drei Kilo Äpfel, die wir beim Obststeigen-Depot bei der Staumauer bunkern und zur Hütte tragen. Der sehr nett formulierten Aufforderung, ein paar Lebensmittel hinaufzutragen, konnten wir einfach nicht widerstehen, und mehr als die paar Äpfel war nicht mehr in den Kisten. Der Weg bis zum Heinrich-Schweiger-Haus ist ein einfach zu gehender Steig mit ein paar versicherten Stellen, die bestimmt sehr hilfreich sind, wenn’s eisig ist. Beim Heinrich-Schwaiger-Haus kehren wir kurz auf einen Kaffee ein. Die Hüttenwirtin meint, dann schaffen wir’s in zweieinviertel Stunden zum Gipfel. Schaffen wir auch.

Gleich hinter der Hütte wartet der Klettersteig-Teil auf uns. Der Weg ist gut markiert mit roten Punkten. Dann geht’s über den Rücken am Gletscherrand entlang hinauf bis unter den Gipfelaufbau. Zum Großteil können wir den Schnee umgehen. Weil alles weich ist, bleiben die Steigeisen im Rucksack.

Dieser ist stufig angelegt. Nicht wirklich zum Klettern, aber auch nicht ganz einfach zu gehen. Auch wird die Luft immer dünner, jeder Schritt anstrengender, das anfängliche Tempo nicht haltbar. Immerhin, bis auf zwei, drei kleine Schneequerungen ist der Weg aber durchgehend aper. Einen unverhüllten Blick auf den Gipfel ergattern wir erst kurz vor dem Gipfelaufbau.

- Großes Wiesbachhorn (3564m)
- flotte 8 Stunden inklusive Pausen
- ca 1600 Höhenmeter
- Einkehrmöglichkeit: Heinrich-Schwaiger-Haus
- Erster Bus ab Kaprun-Kesselfall um 8.10 Uhr, letzte Talfahrt um 16:45

Um 12.45 stehen wir am Gipfel und grinsen über beide Ohren. Die Anstrengung hat sich gelohnt. Was für ein Massiv! Und was für ein Erlebnis, am Wiesbachhorn zu stehen! Mein bisher höchster Gipfel gibt sich mystisch, der Blick ins Tal und Richtung Süden ist in Wolkenfetzen gehüllt.
Viel Zeit oben bleibt uns leider nicht. Der Abstieg ist ohnehin noch lang genug. Ein kleines Bier auf der Hütte. Eine witzige Begegnung am Weg nach unten mit einem übereifrigen Deutschen, an dessen Rucksack befestigt eine leere Obststeige baumelt. Auf unsere Frage, was er denn mit der Kiste vorhabe, meint er nur leicht empört: „Zur Hütte hochtragen natürlich. Macht ja sonst keiner!“ Wie heißt es so schön? Ois fürs Training!

Den letzten Bus, der uns von der Staumauer ins Tal bringt, erreichen wir so locker, dass sich sogar noch ein Eislutscher ausgeht. Bis zu diesem Zeitpunkt ist unser Plan tatsächlich aufgegangen. Und dann fährt mir in Zell am See der Zug direkt vor der Nase davon. Doch die Heimfahrt nach Graz per Autostopp ist eine andere Geschichte…

